Inzwischen sind es sechs Jahre. Sechs Jahre in denen ich schon meine zweite Chance lebe.
Sechs Jahre, in denen ich mir jeden Tag bewusst bin, wie schnell alles zu Ende sein kann. Jahre, welche ich schon nicht mehr leben würde, wenn ich keine zweite Chance bekommen hätte. Nicht nur meine Familie und Freunde waren in der schwersten Zeit meines Lebens bei mir, sondern auch Ihr. All die Menschen, die sich meine Gedanken und Hoffnungen immer wieder hier durchgelesen, kommentiert oder geteilt haben. Ich habe in den letzten Jahren Viele, die mein Schicksal teilen kennengelernt. Bei den Meisten ging es gut wie bei mir, aber einige haben den Kampf verloren.
Heute am 28.05.2015 habe ich meine lebensrettenden Stammzellen bekommen. Dort hin war es ein steiniger und unsicherer Weg. Der Krebs ging, die Gefühle die er auslöste blieben noch eine ganze Weile. Ich habe es geschafft damit umzugehen, zumindest glaube ich das. Immer wieder überkam mich eine plötzliche Angst, dass es doch noch passiert, dass ich doch noch alles verlieren könnte. Für die meisten Menschen scheint der Gedanke von plötzlicher Todesangst übermannt zu werden, total abwegig. An der Kasse im Supermarkt plötzlich von einem Gefühl der Ohnmacht bestimmt zu sein. In den alltäglichsten Situationen die schlimmsten Ängste zu erleben. Von Panikattacken, Angststörung und Agoraphobie war die Rede. Unzählige Gesprächen mit Therapeuten und Freunden. Verschiedene Techniken und Rituale wurden ausprobiert und verworfen. Manches half, anderes nicht.
Ich weiß, dass ich von meinen Freunden und meiner Familie einiges abverlangte.Oft musste ich irgendwo abgeholt werden, weil ich dachte ich würde es nicht alleine wieder nach Hause schaffen. (wie gesagt, für Menschen die selbst noch nie unter dieser plötzlichen, alles in den Schatten stellenden Angst lebten, nicht nachvollziehbar.)
Aber warum schreibe ich darüber und warum ausgerechnet jetzt.
Ich habe es geschafft die letzten 6 Jahre. In Angst vor etwas zu leben, was nicht kam.
Ich habe gelernt, damit zu leben, meine Angst anzunehmen, als Teil meines Lebens. Ich habe gelernt, dass psychische Erkrankungen in der Gesellschaft nicht anerkannt sind. Das man manchmal noch Mitgefühl bekommt, aber kaum Verständnis.
Heute versuche ich so zu leben wie es für mich gut ist. Ich studiere „Gestaltung, Kunst und neue Medien“ an der Merz-Akademie und es tut mir gut. Es tut mir gut nach mir zu schauen, etwas für mich zu machen. Und wenn ich früher noch dachte, dass ein Studium lediglich dem späteren Gehalt dient, weiß ich heute, dass es viel mehr bedeutet.
Ich studiere, weil es mir Spaß macht, aber auch weil ich diese Erfolge brauche. Und wenn es der tägliche Gang zu meinen Vorlesungen ist, der für die meisten nichts Welt bewegendes ist, für mich kann er an manchen Tagen schon einen riesiger Erfolg sein. Ich komme jetzt mit ganz anderen Grenzen und Vorurteilen in Berührung als noch vor sechs Jahren. Manch einer kann sich vielleicht noch an die von mir gewünschten, „kleinen Probleme“ des Lebens erinnern. An kleine, alltägliche Sorgen und Aufgaben. Und JUHUU es gibt sie! Ich kann mich wieder über Kleinigkeiten aufregen! Meistens fühle ich mich den Kleinigkeiten überlegen, weil ich glaube zu wissen, was im Leben wirklich zählt und auf was es ankommt. Aber auf der anderen Seite sind es auch Kleinigkeiten, über die ich mich tierisch aufregen kann. Vor allem wenn andere Sie machen. Vielleicht sind es meine eigenen „alten“ Muster die mich am meisten bei anderen stören. Vielleicht glaube ich manchmal ich hätte das Leben durchschaut, verstanden, wüsste worauf es wirklich ankommt.
Für mich kommt es auf den Moment an! Den Tag den wir miteinander gestalten. Wer auch immer die Menschen in diesen Momenten sind. Habt Spaß miteinander. Traut euch! Sprecht euch an. Ich sehe immer wieder wie schüchtern und verklemmt gerade junge Menschen sich begegnen. Der Großteil in meinem Studium ist 10 Jahre jünger als ich und für die, bin ich wahrscheinlich auch nur die Mutter, die es noch einmal versucht. Aber, auf was ich hinaus will, sind die verpassten Gelegenheiten, Momente. Viele werden wissen, was ich meine, wenn man sich fragt, warum man die Freundin oder den Freund nicht schon viel früher angesprochen hat? Oder, warum man nicht einfach gefragt oder aufeinander zugegangen ist?
Ich bin dankbar für die vielen kleinen Möglichkeiten und Begegnungen, die ich in meinem Alltag haben kann. Hätte das Leben anders gespielt wäre ich inzwischen seit 6 Jahren nicht mehr da. Meine Tochter wäre nie geboren und wenn ich mir manchmal noch vorstellen kann, dass ich nicht da wäre, eine Welt ohne meine Emilia wäre für mich undenkbar. Auch mir fällt es nicht immer leicht auf Leute zuzugehen oder wie man so schön sagt, über meinen Schatte zu springen. Doch dann denk ich wieder an damals, 2014 als Deutschland, in Brasilien Weltmeister wurde, als die Menschen auf der Straße gefeiert haben. Genau in dieser Nacht saß ich am Fenster des Krankenhauses und hab die feiernde Menge beobachtet. Ich war 24 Jahre alt, Studentin, Schwanger, wollte eigentlich gerade ein Semester in Mailand studieren, wollte viel und das Viele, dass ich wollte war Karriere, Geld, Anerkennung. Was ich hatte war „Krebs“ und die Ungewissheit ob es ein morgen für mich gibt. Und als ich an diesem Fenster saß und auf die johlende und grölende Menge hinunterschaute, auf diese Glücklichen, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Es ist scheiß egal, was du arbeitest und wie viel Geld du verdienst, wie cool du bist bzw. für wie cool dich die anderen halten. Wenn du da oben sitzt und nicht da unten, hast du verkackt! Dann ist alles andere einfach nebensächlich, einfach scheiß egal!
Und immer, wenn ich merke, dass ich in diese alten Muster verfalle, wenn ich mir über eben jene Nebensächlichkeiten zu viele Gedanken mache, habe ich meinen Anker.
Mein Moment am Fenster, wo Deutschland Weltmeister wurde und die Welt für einen Moment stillstand.